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Lebensunwert?

Vorwort

Robert Krieg

In diesem Buch begegnen wir mit Paul Wulf und Paul Brune zwei Menschen, die es sich zeitlebens zu ihrer Aufgabe gemacht haben, darüber aufzuklären, was es bedeutet, von einer rassistischen Ideologie für »lebensunwert« erklärt zu werden. Sie haben den Terror der Zwangspsychiatrisierung überlebt, der sich auch nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reiches« fortsetzte. Sie gehören zu den Wenigen, die sich nicht scheuten, das an ihnen begangene Unrecht öffentlich zu machen. Sie verschafften sich Gehör in einer Nachkriegsgesellschaft, die die Verfolgung von allen, die als »sozial minderwertig« galten, stillschweigend duldete. Sie überwanden die Scham, das Gebot des Schweigens und setzten sich damit erneut dem Stigma aus, nicht Teil der »Normalität« zu sein.

In den 50er und 60er Jahren verschwanden Tausende Jugendliche, die sich nicht »angepasst« verhielten oder aus Familienverhältnissen stammten, die nicht der sozialen Norm entsprachen, hinter Heim- und Anstaltsmauern. Hier erlebten sie Zwangspsychiatrisierung, Gewalt und Demütigung in einem Ausmaß, das sie bis heute traumatisiert. Viele der Betroffenen haben jetzt das Rentenalter erreicht, einen Zeitpunkt also, der Rückschau halten lässt und ihnen vor Augen führt, wie viele wertvolle Jahre sie in ihrer Jugend verloren haben. Einige von ihnen sind an die Öffentlichkeit gegangen und haben dadurch einen Diskurs über die Verbrechen der Heimkindererziehung in der Nachkriegszeit ausgelöst.

Mit diesem Buch wollen wir verständlich machen, warum es noch bis tief in die 70er Jahre hinein zu derartigen Übergriffen kommen konnte gegenüber Menschen, die nicht den Normen der Mehrheitsgesellschaft entsprachen. Die politische Zäsur von 1945 ist an den Heimen und psychiatrischen Anstalten fast spurlos vorüber gegangen. Die der Heimunterbringung und Zwangspsychiatrisierung Ausgelieferten hatten jenseits der Mauern keine Lobby, die sich für ihre Rechte einsetzte: Wohlfahrtsverbände, Institutionen der öffentlichen Fürsorge und die Kirchen als »natürliche Fürsprecher der Schwachen« waren selbst viel zu sehr in das System verstrickt, das die ihnen Anvertrauten vor 1945 der Vernichtung preisgegeben hatte.

Die Überzeugung, dass es sich bei den Anstalts- und Heiminsassen um »sozial Minderwertige« handele, von denen eine Gefahr für die Gesellschaft ausgehe, bildete auch nach 1945 die ideologische Grundlage der öffentlichen Fürsorge. Sie hat ihren »wissenschaftlichen« Bezugspunkt in der »Erbgesundheitslehre«, die das »rassisch Minderwertige« auszusondern und zu eliminieren trachtet. Entsprechend handelten Anstaltspersonal und Anstaltsärzte, Erzieher und Nonnen, Amtsärzte, Psychiater, Gutachter und Juristen, die über das Leben der ihnen Ausgelieferten richteten. Auch wenn die Ausmerzung von Menschen aufgrund ihrer »rassischen Minderwertigkeit« im »Dritten Reich« einen traurigen Höhepunkt erreichte, ist sie nicht genuin dem Nationalsozialismus zuzuordnen. Die Rassentherorie bildete vielmehr den ideologischen Überbau einer imperialen Machtpolitik, die die Ausrottung ganzer Völkerschaften im Zuge zügelloser Expansion »wissenschaftlich« legitimierte.

Als wir uns 1999 zum ersten Mal als Freundeskreis Paul Wulf trafen, wollten wir einen ungewöhnlichen Menschen nicht in Vergessenheit geraten lassen. Er hatte uns eine umfangreiche Sammlung von Dokumenten hinterlassen, und wir haben uns vorgenommen, sie aufzuarbeiten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich daher im Kapitel »Begegnungen mit Paul Wulf« mit einer persönlichen Sicht auf ihn sowie im Kapitel »Ausstellungen von Paul Wulf« mit seiner intensiven Forschungstätigkeit, die wir exemplarisch anhand ausgewählter Schautafeln vor stellen. Dieses Buch erhebt nicht den Anspruch einer systematischen Darstellung der »Erbgesundheitslehre« und ihrer tödlichen Auswirkungen. Wir wollten keine wissenschaftliche Abhandlung verfassen, sondern vielmehr ein möglichst breites Publikum ansprechen, das sich mit den Hintergründen von sozialer Ausgrenzung auseinandersetzen möchte. Gleichzeitig wollen wir aber auch etwas von dem Widerstand gegenüber vorherrschenden Meinungen und Vorurteilen vermitteln, der sich in der Haltung von Paul Wulf und Paul Brune manifestiert und uns ermuntert, vor inhumanen Verhältnissen nicht die Augen zu verschließen.

Last update: 23.3.2007

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